Internationale Orient-Okzident-Gesellschaft e.V.
 
 

Religiöse Minderheiten

Das kulturelle Leben der ägyptischen Juden in der Diaspora

 

Verfasst von

 

Taqadum Alkhatib (FU Berlin)

 

 

„Geht, steht auf und geht eures Weges.

Aber betet auch für mich. Und Ägypten eilte, das Volk aus dem Lande zu weisen.

Und sie sagten: Wir sind alle des Todes.“ (Exodus, 12, 31-34)

 

 

Der letzte Oberrabbiner von Ägypten, Rabbi Haim Moussa Douek[1] half die Synagoge Ahaba ve Ahva[2] zu gründen, die sich in Kairo befand. Mit der Errichtung der neuen Synagoge wurde es möglich, Laien in der Tora zu unterrichten und die potenziellen Hazzanim (Kantoren), Schächter für koschere Schlachthöfe und rabbonim (Rabbis), zu trainieren. Dank der Beteiligung von Rabbi Douek entwickelte sich die Synagoge zu einer Jeschiwa, in der Angebote für alle denkbaren Bedarfe vorhanden waren, und die bereit war, eine neue Generation ägyptischer Juden zu schulen. Gleichzeitig wurde er zum Rabbiner bei Ahaba ve Ahva ernannt, mit der Verantwortung für die Lehre des Talmuds. Er behielt diese Position bis 1957, als die Regierung die Jeschiwa schloss.

Im November 1952 wurde Rabbi Douek vom Oberrabbiner von Ägypten in das rabbinische Gremium des Oberrabbinats von Kairo einberufen. Im Jahre 1954 ernannte der Oberrabbiner ihn dann zum Vorsitzenden des Beit Din (des Rabbinischen Hofes), und das ägyptische Justizministerium ernannte ihn zum Richter in den jüdischen Primar- und Berufungsgerichten in Kairo, die Abteilungen des jüdischen häuslichen Beziehungsgerichts waren. Im Januar 1956 ernannte das ägyptische Justizministerium Rabbi Douek zum Notardelegierten, der in allen Angelegenheiten zuständig war, welche die persönlichen Beziehungen der Juden beeinträchtigten. Er wurde auch dazu bestimmt, alle offiziellen Dokumente für das Oberrabbinat von Ägypten auszustellen. Mit Rabbi Naḥūms Tod im November 1960 wurde Rabbi Douek der letzte Oberrabbiner von Ägypten und übernahm alle Verantwortung des Rabbi Naḥūm für die Führung der jüdischen Gemeinde, die bis dahin bereits zwei große Kriege zwischen Israel und Ägypten und zahlreiche Grenzkonflikte erlebt hatte.[3] Obwohl die jüdische Gemeinde damals auf etwa 10 000 Mitglieder geschrumpft war, erhielt Rabbi Douek die Einheit der Gemeinschaft, indem er allen Juden spirituelle Führung leistete. Er blieb lange Vorsteher des Beit Din und der jüdischen Gemeinde Kairos und wirkte darüber hinaus in ganz Ägypten.[4] Nach der Einwanderung der Juden aus Ägypten in die USA wurde die Ahaba ve Ahva-Synagoge in New York gegründet, in der alle jüdischen Traditionen zur Anwendung gebracht wurden. Diese Traditionen werden bis heute in der diasporischen Synagoge mit nur kleinen Veränderungen nach wie vor ausgeübt. Die bekannteste ägyptische jüdische Tradition, die die Synagoge in der Diaspora folgte, ist Seder Tawhid, die etwa hundert Jahre vorher in Ägypten unter den dortigen Juden entstanden war. Rabbi Rephael Aharon Ben Shimon (1848 - 1928), eine führende rabbinische Autorität, die dreißig Jahre lang als Oberrabbiner von Kairo diente, analysiert in seinem Buch Sefer Nehar Mitzrayim und Sefer Seder Halitza die ägyptisch-jüdische Sitte in nahezu allen Bereichen des religiösen Rechts.[5] Die Arbeit ist nach den Abschnitten von Joseph Caros Code (Shulḥan Arukh) organisiert.[6] Diese Arbeit enthält viele Informationen über die Übernahme der Seder Tawhid, über modische Kleidung und das Verbot des kilayim[7] für Frauen und Männer sowie die Veränderung von Zeit und Raum. Rabbi Rephael Aharon Ben Shimon erklärt die Bedeutung von Seder Tawhid wie folgt:  

Es gehet um die Nacht von Rosh Hodesh Nissan, einen alten Brauch in Ägypten wo viele Leute Seder Tawhid in der Synagoge feiern……Nachdem der großen hazanim  (Kantor) all das mit schönen Klängen und angenehmen Stimmen gelesen hatte, steht er auf und öffnet sich mit einer sehr klaren und süßen Stimme und sagt Seder Ha-yihoud (hebräische Übersetzung von El-Tawhid) in literarischem Arabisch, die Geschichte der Größe des Schöpfers……Am Ende des Yihoud sagt der hazanim  auf Arabisch ein Gebet, dass das Herz durch sein Mitleid zerreißt und mit seinen angenehmen Sprüchen ein Brennen auslöst….Dieses Fest wurde wegen des Exodus aus Ägypten auf Rosh Hodesh Nissan erklärt, dass die Erlösung in der Nacht des 15. Nissan stattfinden wird, der Nacht von Pessach, und das war in Ägypten. Zum Gedenken an diese Verkündigung der bevorstehenden Erlösung tun die Juden in Ägypten eine gute Erinnerung an die Nacht von Rosh Hodesh Nissan, wenn die Menschen alle zu Hause sind, um sich an die Wunder von Gott und an seine Güte zu erinnern“.[8]

 

Diese Tradition bleibt – wie ich oben erklärt habe – bei den ägyptischen Juden in der Diaspora erhalten und wurde in ihrer Ahaba ve Ahva-Synagoge in New York zur Anwendung gebracht, aber mit einem signifikanten Unterschied zwischen der alten Anwendung, die in Ägypten vor dem zweiten Exodus stattgefunden hat, und der neuen in der Diaspora. Bei dieser wurden auch die Lieder der berühmten ägyptischen Sänger, wie ʾUmm Kulṯūm[9], als auch ägyptische Volkslieder auf Hebräisch gesungen. Die allgemeine Melodie wird ohne Veränderung gesungen, aber die Wörter des Liedes werden auf Hebräisch gesungen, mit der gleichen Sprachmelodie. Ein Beispiel ist das Lieds von ʾUmm Kulṯūm al-Qalb Yiʿšaq kull Ǧamīl „Das Herz liebt alles Schöne“[10]

 

القلب يعشق كل جميل                                                                                                                     

وياما شفتي جمال ياعين

الي صدق بالحب قليل .. قليل

وان دام يدوم ... يوم... والاّ يومين

والي هويتو اليوم .... دايم وصاله دوم

لايعاتب الي يتوب ... ولابطبعه اللوم

واحد مافيش غيره ... ملا الوجود نوره

دعاني لبيته ... لحد باب بيته

واما تجلالي .... بالدمع ناديته

*******

كنت ابتعد عنه ..... وكان يناديلي

ويقول مسيرك يوم تخضعلي وتجيني

طاوعني ياعبدي .... طاوعني انا وحدي

مالك حبيب غيري قبلي ولابعدي

انا الي اعطيتك من غير ما تتكلم

وانا الي علمتك من غير ما تتعلم

والي هديتو ليك ... لو تحسبو بأديك

تشوف جمايلي عليك من كل شئ اعظم

سلّم لنا ....سلّم لنا ..... تسلم

دعاني لبيته لحد باب بيته

*******

 

הלב אוהב כל יפה

וכמה ראיתי יופי, יא עין

אשר אמיתי באהבה מועט.. מועט

ואם יתמיד - ימשך יום ולא יומיים

ואשר אהבתי היום - מתמיד ונמשך

לא ינזוף בשב, ואין הגערה מטבעו

אחד ואין שני לו, מלוא המציאות אורו

קראני לביתו - לגבול שער ביתו

וכאשר נגלה לי - בדמעות שוחחתי איתו

 

הייתי מתרחק ממנו – והיה קורא לי

ויאמר- סופך - יום יבוא יכנע ותבוא אלי

השמע לי יא עבדי.. השמע לי לבדי

מה לך חביבי זולתי - לפני או אחרי

אני אשר חננתיך מבלי שתדבר

ואני אשר למדתיך מבלי שתלמד

ואשר נתתיך - לו תחשבו בידיך

תראה טובי עליך - גדול מכל דבר

הכנע לנו.. הכנע לנו.. שלום יהיה לך[11]

 

Die Übersetzung ins Hebräische war eine Tradition unter den jüdischen Gemeinden in Ägypten, und sie wurde in den rabbinischen Zeitschriften wie Israel intensiv verwendet, weil sie auf drei Sprachen herausgegeben wurde. In den karäischen Zeitschriften wie al-Kālīm (1939-1948) wurde sie nachträglich zur Anwendung gebracht. Ähnlich wie al-Hīlāl verwendete al-Kālīm gelegentlich Hebräisch, um die Meinung der spezifischen Wörter oder Sätze zu erklären, oder zwischen den unterschiedlichen Übersetzungen (Arabisch oder Europäisch) zu vergleichen.[12] Andererseits zeigt die Übersetzung hier, dass die ägyptischen Juden in der Diaspora in Verbindung mit ihrem Heimatland stehen, und erklärt, dass sie sich als arabische Juden sehen. Da ist diese unglaubliche Nostalgie, diese Sehnsucht nach der Heimat, in der sie geboren und aufgewachsen sind.



[1]              Rabbi Haim Moussa Douek wurde im April 1905 in Antab (Türkei) geboren. Er war der Erstgeborene

von Moussa Haim Douek und Zarifa Shaoul Harari, zwei Juden, die in einem Gebiet in der Nähe der heutigen türkisch-syrischen Grenze ansässig waren. besuchte die Tagesschule an der Schule der Alliance Israélite Universelle. Am Nachmittag besuchte er zudem Keter Torah für jüdische Studien. Am Schabbat und an Feiertagen besuchte er mit seinem Vater die Synagoge Kenisset el Halabiya, die nach dem Ritus von Aleppo verfährt, und von 1918 bis 1933 verfolgte er rabbinische Studien an der großen JeschiwaKeter Torah in Kairo. Dort studierte er auch den Talmud mit Rabbi Yossef Pinto, dem renommierten Vorsteher der Jeschiwa, unter der Leitung von Rabbi Haim Na­houm, zu der Zeit der Oberrabbiner von Ägypten. Rabbi Douek wurde 1933 ordiniert. Zu Rabbi Douek siehe den Artikel der Jewish Telegraph Agency (Hg.): Former Chief Rabbi of Egypt Arrives with Family in US, in: Daily News Bulletin 202 (19. Oktober 1972), S. 2. Andere Artikel über ihn erschienen in der New York Times. Mehr  über die Alliance findet man bei: Aron Rodrigue: The Image of Sephardim and Eastern Jews in Transition, the Teachers of Alliance Israélite Universelle 1869–1939, Washington: University of Washington Press 1993.

[2]                     Die Ahaba ve Ahva-Synagoge folgte der ägyptischen jüdischen Tradition des Seder Tawhid, die etwa hundert Jahre vorher in Ägypten unter den dortigen Juden entstanden war. Wie Zivi Zohar in seinem Buch mitteilte: „Die Tawhid war eine Zeit zu lernen, zu reflektieren und zu lesen über korban Pesaḥ (= das Pesaḥ-Opfer). Siehe bitte Zivi Zohar: Rabbinic Creativity in the Modern Middle East, London 2013, S. 277. Siehe auch die Website der Synagoge, vgl. www.ahaba.org/about.asp (letzter Aufruf 01.05.2017). Zur Tawhid-Tradition siehe www.ahaba.org/mediadetail.asp?id=107 (letzter Aufruf 01.05.2017).

[3]          Chaim Naḥūm Effendī (1872-1960) war ein Großrabbiner im Osmanischen Reich und Großrabbiner von

Ägypten und dem Sudan. Mehr über ihn in al-ʾIt­tiḥād al-ʾIsrāʾīlī 1925, Bd IV, Hf 4. S 6; und auch in Shaw: The Jews of the Ottoman Empire and the Turkish Republic (1991).

[4]              Siehe: www.ahaba.org/mediadetail.asp?id=107 (letzter Aufruf 01. 05. 2017).

[5]              Die Auswirkung der europäischen Normen und Lebensstile auf die Juden Ägyptens,

insbesondere auf die halachischen Gelehrte, war in dieser Arbeit auffällig, die diese Aufklärung in verschiedenen Stellungen angenommen und den Umbruch in den rabbinischen Gemeinden umgesetzt hat.

[6]              Der sephardische Rabbiner Joseph Caro (geb. 1488 in Spanien, gest. 1575) schrieb Shulḥan Arukh, das als ein Nachschlagewerk für Gelehrte verfasst wurde, und als Studienbuch für junge Studenten dienen sollte. Dieses Buch, das der Anordnung des Turim folgte, gibt die Gesetze in knapper Form wieder, ohne die Ge­lehrten anzugreifen. Das Buch wurde von den sephardischen Rabbinern adoptiert. Siehe Encyclopedia Ju­daica (Schlagwort Shulḥan Arukh) Band 18, New York-London 2007. S.446, und Zimmels (1958), S. 52f.

[7]              Eine Mischung aus Wolle und Leinen. Siehe das sogenannte Gesetz von der Mischung in: The Laws of Mixture: An Anthropological Study in Halacha von Goldberg (1987), S. 55–74.

[8]              Siehe bitte Zvi Zohar: Rabbinic Creativity in the Modern Middle East, S. 271-272. London 2013, der

originalen Text auch in Sefer Nehar Mitzrayim and Sefer Seder Halitza: Rephael Aharon Ben Shimon (2 Bände) A documentation and  thorough analysis of the customs of Egyptian Jewry with a biography of the author and his will (in Hebrew) 1997. Siehe auch eine Übersetzung für den Text auf Englisch auf: http://www.hsje.org/library/Seder-index.php?filename=ElTawhid.html.

[9]              Umm Kulthum (1904-1975) ist die berühmteste ägyptischen Sängerin und Musikerin in der

ägyptischen modernen Geschichte. Sie war eine enge Freundin des ehemaligen ägyptischen Präsident Gamal Abdel Nasser. Umm Kulthum familiärer Hintergrund war sehr religiös, und sie war ihr Leben lang tief gläubig. Sie las im Koran, bevor sie das Haus verließ. Siehe bitte Stafanie Gsell: Umm Kulthum: Persönlichkeit und Faszination der ägyptischen Sängerin. Berlin, 1999. Siehe auch: Mohammed Abdelaziz: Liebeslieder aus Ägypten, Zwölf der beliebtesten Lieder vom Umm Kulthum, gesprochenes Arabisch. Schweiz, 2008.

[10]            Sänger: ʾUmm Kulṯūm; Liedtext: Muḥammad Bayran a-Ttūnsī; Musik: Riyāḍ as-Sumbātī. Einige

Lieder ʾUmm Kulṯūm haben die sufische Liebe zum Inhalt, ihre Konzertkarriere beendete mit dieser religiös-sufischen Ughniyya „Das Herz liebt alles Schönee“. Siehe bitte: Stafanie Gsell: Umm Kulthum: Persönlichkeit und Faszination der ägyptischen Sängerin, S. 115-117; und auch: Das Herz liebt alles schön: Die Lieder der Umm Kulthum. Berlin, 2004.

 

[11]            Unter folgendem Link kann man das Lied auf Hebräisch mit der arabischen Melodie hören:

https://vimeo.com/6746203. Mehr Übersetzungen für die Lieder von ʾUmm Kulṯūm auf

unterschiedlichen Sprachen siehe bitte diese Webseite: https://lyricstranslate.com/de/oum-kalthoum-index.php?filename=lyrics.html

[12]            Wie die karäischen hebräischen Bibelfragmente (aus der Kairoer Geniza), die in arabischer Schrift

geschrieben wurden, sollte auch im Al-ʾIttiḥād das Hebräische verwendet werden, quasi als Kontinuität dieser Tradition. Die Trans­kription des Al-ʾIttiḥād ist ähnlich der Geniza gehandhabt worden: Verschiedene hebräische Texte in der Geniza wurden auf Arabisch geschrieben, gleichermaßen wurden verschiedene Wörter im Al-ʾIttiḥād auf Arabisch geschrieben. Saʿdiyā bin Yūsuf Gaon schuf durch sei­ne Übersetzung der Bibel diese Tradition, was man nachträglich judäo arabisch nannte. Saadias Über­setzung der Bibel (tafsīr) aus dem 10. Jahrhundert wirft eine interessante Frage in Bezug auf die Übersetzung der „Heiligen Texte“ auf, insbesondere in Bezug auf die Šurūḥ Übersetzungen des 15. Jahrhunderts. Benjamin H. Hary: Linguistic Analysis of Judeo-Arabic Sacred Texts from Egypt (2009), S. 5.

 


© 2006 Internationale Orient-Okzident-Gesellschaft e.V.
Letzte Änderung: 2010-03-28 [Seite bearbeiten]